Was ist eine Praxis wert?
Im Jahre 2017 zählte mit ca. 2,5 Millionen die überwiegende Mehrheit (99,4 %) der deutschen Unternehmen zu den kleinen und mittleren Unternehmen (KMU); hiervon entfiel der größte Anteil auf Kleinstunternehmen (2,1 Millionen). Die Anzahl der KMU ist in den letzten Jahren wiederum erheblich gestiegen und orientiert sich derzeit bei um die 3,2 bis 3,6 Millionen. All diese Unternehmen zusammen beschäftigten im Jahre 2020 über 16 Millionen Angestellte und erwirtschafteten einen Umsatz von mehr als 2 Billionen Euro (Statistisches Bundesamt; Stand 03.07.2023).
Wie bereits erwähnt, machen bei den KMU gerade die Kleinstunternehmen den maßgeblichen Anteil aus. Zu Kleinstunternehmen zählen diejenigen, welche weniger als zehn Mitarbeitern beschäftigen und einen Umsatz von maximal zwei Millionen Euro pro Jahr erwirtschaften. Zu diesen Kleinstunternehmen gehören auch die deutschlandweit geführten Arztpraxen, deren Praxisbewertung hier vordergründig thematisiert werden soll.
Während sich die Umsatzzahlen der Arztpraxen innerhalb der letzten 20 Jahre zum Großteil sehr positiv entwickelten, ist dementsprechend auch der Preis für die Übernahme einer solchen gestiegen. Sich quasi „in das gemachte Nest zu setzen“ hat ergo seinen Preis, den sich derjenige, welcher die Praxis aufgebaut und entsprechend lukrativ gemacht hat, auch zu Recht vergüten lassen möchte.
Verkehrswert- / Kaufpreisermittlung
Die wesentliche Frage ist nunmehr: Welcher Preis ist für eine konkret zu erwerbende Praxis angemessen und wie lässt sich dieser im Einzelnen genau ermitteln?
Die Ermittlung des Preises bzw. Verkehrswertes der Praxis erfolgt hierbei mit zum Teil recht komplizierten Berechnungsmethoden, wobei eine Vielzahl von zumeist unbekannten Werten von Nöten ist (Gebrauchswertfaktor von Wirtschaftsgütern, verschiedene volkswirtschaftliche Indizes und dergleichen). Neben der Schwierigkeit, die eben besagten Werte zu ermitteln, gestaltet sich ebenso die anschließende Berechnung sehr aufwendig und kompliziert, weswegen es sich empfiehlt dies entsprechenden Experten zu überlassen.
Ganz allgemein jedoch formuliert muss ein Preis ermittelt werden, welcher im gewöhnlichen Geschäftsverkehr zu einem bestimmten Zeitpunkt an einem bestimmten Ort erzielt werden könnte. Hierbei sind wiederum alle Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen, welche den Wert maßgeblich beeinflussen (ungewöhnliche Besonderheiten außen vor gelassen). Wichtig ist vor allem eine sorgfältige Analyse der Vergangenheit im Hinblick auf Umsatz und Kosten sowie eine Prognose dahingehend, wie gewinnbringend sich die Praxis auch in der Zukunft
erweisen wird.
Maßgebende Faktoren der Verkehrswertermittlung
Für die Ermittlung des Verkehrswertes ist eine Vielzahl von Einzelfaktoren von besonderer Bedeutung. Je nach Einzelfall sind diese Faktoren einzubeziehen und zu gewichten. Zu den besagten Einzelfaktoren gehören insbesondere:
- die Art der Praxis (Einzelpraxis oder Gemeinschaftspraxis mit zwei oder mehr Teilhabern)
- das jeweilige Fachgebiet
- die Arbeitszeit je Arzt
- der Anteil an Privatpatienten
- der Standort der Praxis (essentiell aufgrund der Einwohnerzahl sowie deren Kaufkraft)
- Konkurrenzsituation
- Zusatzqualifikationen
Das Modifizierte Ertragswertverfahren als zutreffendste Bewertungsmethode
Für die Berechnung des Verkehrswertes einer Praxis eignet sich am ehesten das Modifizierte Ertragswertverfahren; diese Meinung teilt auch der Bundesgerichtshof (Urteil vom 02.02.2011 – XII ZR 185/08 ). Dieses Verfahren kombiniert das bis ehemals angewandte Klassische Ertragswertverfahren nach IDW S1 mit einem verkürztem Ergebniszeitraum und einer Ermittlung des Substanzwertes der jeweiligen Praxis. Der Vorteil ist, dass das Verfahren nicht an starre Multiplikatoren gebunden ist und mithin individuelle Faktoren zu berücksichtigen vermag, welche sich wertbeeinflussend auswirken können. Der wesentliche Gedanke bei der Berechnung ist der der Reproduktion (der Praxis): „Was würde es kosten, das zu bewertende Unternehmen in allen Einzelteilen zu reproduzieren, sozusagen ein identisches Unternehmen auf die grüne Wiese zu stellen“ (Kuhner/Maltry, Unternehmensbewertung, Rn 43).
Hierzu reicht es ersichtlich nicht aus, allein dieselben Wirtschaftsgüter anzuschaffen und Kapital zur Verfügung zu stellen. Es ist vielmehr ebenso erforderlich, dass fachkundiges Personal angestellt und eingearbeitet wird, ein Patientenstamm aufgebaut, die Praxis sich etabliert und vieles mehr.
Zu ermitteln sind letztlich somit zwei Komponenten, welche den Verkehrswert der Praxis bestimmen: Der Substanzwert der Praxis und deren Ertragswert (auch GoodWill oder Firmenwert genannt). Wie sich wiederum diese beiden Werte ermitteln lassen, soll im Folgenden vereinfacht dargestellt und anhand von Einzelbeispielen verdeutlicht werden.
Der Substanzwert
Zur Ermittlung des Substanzwertes sind sämtliche materiellen Vermögenswerte der Praxis (Einrichtung, medizinische Geräte, Instrumente, Vorräte, usw.) mit den übrigen Posten der Aktiva (Waren, Forderungen, Geldbestände, usw.) zu addieren; das Ergebnis hieraus ist dann
wiederum um die Verbindlichkeiten und Rückstellungen zu kürzen.
Ausgehend von dem oben erwähntem Reproduktionsgedanken ist hinsichtlich des materiellen Vermögenswertes der Wiederbeschaffungs- bzw. Reproduktionswert anzusetzen, mithin der jeweilige Zeitwert der einzelnen Wirtschaftsgüter (= WG). Dieser Wert eines WG ermittelt sich
– unter der Prämisse der Praxisfortführung – anhand der Anschaffungskosten, der Teuerungsrate, des Alters, der durchschnittlichen Nutzungs- und Lebensdauer und des Betriebszustandes sowie -einsatzes.
Die Formel hierfür lautet:
ZW = AW x FPW x FZw x FGw x FMw
- AW = Anschaffungswert
- FPW = Preiswertfaktor, Preisindizes
- FZw = Zeitwertfaktor; technische Nutzungsdauer
- FGw = Gebrauchswertfaktor; Zustand
- FMw = Marktwertfaktor; Marktgängigkeit
Wie vorab bereits angesprochen, dürften bis auf den Anschaffungswert die weiteren Faktoren zu Preiswert, Gebrauchswert usw. regelmäßig unbekannt sein.
Definitionen der einzelnen Faktoren sind für den Laien hierbei auch kaum eine Hilfe und werfen letztlich nur noch mehr gedanklich Fragezeichen auf.
Bspw.: „Der Zeitwertfaktor ermittelt sich nach Wahl des Sachverständigen aus einer linearen, arithmetisch degressiven oder geometrisch degressiven Gleichung in der die voraussichtliche Gesamtnutzungsdauer der Maschine und ein möglicher Restwert am Ende der Nutzdauer die beiden Variablen Eingangsgrößen darstellen.“
Einfach ausgedrückt bedeutet es am Beispiel Zeitwertfaktor, dass je nach Auffassung des Sachverständigung sich der Wert eines WG in den einzelnen Zeitabschnitten nach der Anschaffung mehr oder weniger schnell verflüchtigt (Exemplarisch: Wert -10% im ersten Jahr, -7,5% im vierten Jahr und -4% im zehnten Jahr nach der Anschaffung).
Als kleines Beispiel:
Ein WG mit einem Anschaffungswert von 30.000,- EUR und einer allgemeinen Nutzungsdauer von 18 Jahren hat regelmäßig (den Gebrauchs- und Marktwertfaktor außen vor gelassen; beide Faktoren mit 1 bemessen)
- ach 3 Jahren einen Zeitwert von ca. 21.500,- €;
- nach 10,5 Jahren einen Zeitwert von ca. 8.100,- €; und
- nach 18 Jahren oder darüber hinaus einen Zeitwert von noch ca. 3.000,- EUR.*
* Werte weichen je nach Berechnungsmethode des Sachverständigen ab
Gerade auch im Hinblick auf die weiteren zu berücksichtigen Faktoren ist eine Berechnung für den Laien nahezu unmöglich und mithin quasi zwingend einem Fachmann zu überlassen. Sich dagegen der Einfachheit halber mit dem Buchwert zu begnügen ist in keiner Weise ratsam, da so letztlich voll abgeschriebene aber noch gebrauchstüchtige WG bei der Verkehrswertberechnung faktisch unbedacht bleiben.
Der Ideelle Wert (GoodWill)
Der ideelle Wert einer Praxis ist mit dem Barwert der zukünftigen Nettoüberschüsse gleichzusetzen, die der Praxiserwerber in dem Zeitraum erwirtschaftet, welchen er eigentlich für den „Neuaufbau“ einer vergleichbaren Praxis benötigt hätte. Grundlage hierfür bildet zunächst der nachhaltig erzielbare Ertrag nach Abzug der Ertragssteuer und eines individuellen Unternehmerlohns. Dieser nachhaltige Reinertrag ist dann mit einem Faktor zu multiplizieren, welche die voraussichtliche Dauer des Aufbaus einer vergleichbaren Praxis in Jahren wiedergibt (= Rentenbarwertfaktor).
Nachhaltige zukünftige Überschüsse
Um die zukünftig erwirtschaftbaren Überschüsse (=Praxisgewinn) beziffern zu können ist eine Analyse der in der Vergangenheit erzielten Einnahmen und Ausgaben vorzunehmen; hierbei sind „außerordentliche“ Positionen/ „Abweichungen von der Norm“ herauszurechnen. In einem weiteren Schritte wird ermittelt, inwieweit sich die so errechneten betriebswirtschaftlichen Erträge wiederum auf einen Praxisnachfolger übertragen lassen bzw. wie dieser mit ggf. nur wenigen Veränderungen vollends von der Praxis profitieren kann. Von besonderer Bedeutung sind hierbei die Entwicklung der Praxis, deren Standort und die aktuellen Entwicklungen des Gesundheitsmarktes. Aufgrund des offenkundigen Ermessensspielraums hierbei, kann es bei der Bewertung zu durchaus unterschiedlichen Ergebnissen kommen.
Von einem Gutachter werden in der Folge Prognosen hinsichtlich des zukünftigen Umsatzes sowie der zukünftigen Kosten getroffen.
Ein einfaches Beispiel hierzu:
Die lediglich für 20 Stunden in der Woche geöffnete Praxis A generierte bislang einen Umsatz von 300.000 € pro Jahr. Die weitere Praxis B generierte demgegenüber 450.000 € Umsatz pro Jahr, war jedoch durchgehend für 35 Wochenstunden geöffnet. Sofern die lediglich begrenzte Anzahl an Wochenstunden in Praxis A nicht bspw. durch eine entsprechend niedrige Patientenfrequentierung oder ähnliche Umstände limitiert wurde, welche sich ebenso vom Erwerber nur schwer beseitigen lassen, so ist ersichtlich, dass bei gleicher Wochenarbeitszeit sich für Praxis A eine entsprechend höhere Umsatzprognose als für Praxis B errechnen lässt.
Wie in Zusammenhang mit dem Umsatz sind entsprechende Überlegungen auch bezüglich der zukünftigen Kosten anzustellen: Wie entwickeln sich die Unterhaltskosten der Praxis, wie müssen die Löhne des Personals angepasst werden, wie wirkt sich die Inflation aus und vieles mehr.
Sind die Prognosen beziffert worden, ergibt sich aus dem zukünftigen Umsatz abzüglich der zukünftig voraussichtlichen Kosten der Gewinn, welchen die Praxis (vor Steuern) zu generieren vermag.
Unternehmerlohn
Da in der Einnahmen-Überschussrechnung das Gehalt eines Arztes/Unternehmers nicht als Betrag ausgewiesen werden darf, ist dieses Gehalt aus den zuvor ermittelten Überschüssen herauszurechnen. Der Gedanke dahinter ist der, dass der Erwerber seine Verdienstmöglichkeiten auch in einem Angestelltenverhältnis (mit geringerem Risiko) ausschöpfen könne und letztlich nur den „Mehrwert“ des Erwerbs einer eigenen Praxis dem Veräußerer vergüten soll. So hat der Erwerb einer eignen Praxis für einen Übernehmer faktisch keinen „Wert“, wenn er hierbei dasselbe wie auch als Angestellter erwirtschaften würde.
Die Höhe des Arztlohnes ist dabei individuell zu berechnen, bemisst sich am Gehalt eines angestellten Arztes in vergleichbarer Tätigkeit und ist gemäß der Arbeitsintensität sowie persönlichen Fähigkeiten anzupassen. Auch an dieser Stelle besteht ersichtlich Bewertungsspielraum.
„Bei der Bewertung des Goodwill ist ein Unternehmerlohn abzusetzen, der den individuellen Verhältnissen des Praxisinhabers entspricht. Der Unternehmerlohn hat insbesondere der beruflichen Erfahrung und der unternehmerischen Verantwortung Rechnung zu tragen sowie die Kosten einer angemessenen sozialen Absicherung zu berücksichtigen.“ BGH, Urteil vom 02.02.2011 – XII ZR 185/08
als (vereinfachtes) Beispiel:
Bruttolohn (gemessen an der Berufserfahrung, Leistung und Qualifikation des Arztes) 80.000 EUR
+ Zuschlag primäre Altersversorgung 20% 16.000 EUR
+ zusätzliche Altersversorgung 4 % 3.200 EUR
Zwischenergebnis 99.200 EUR
+ Zulage für Unternehmensrisiko („Chefzulage“) 15% 14.880 EUR
Unternehmerlohn 114.080 EUR
Der zuvor dargestellte Unternehmerlohn wurde anhand einer Arbeitszeit von 40 Wochenstunden errechnet. Wie auch bei der Bemessung der Umsatzprognosen (vgl. oben) ergibt sich bei einer kürzeren Wochenarbeitszeit auch ein dementsprechend geringeres Entgelt. Dies sowie weitere Faktoren wie bspw. die geographisch differierenden Lohnniveaus sind in der Kalkulation zu berücksichtigen.
Ertragssteuer
Zur Berechnung des nachhaltigen Reinertrages (vgl. im Folgenden) ist vom ermittelten Gewinn/Ertrag ebenso die Ertragssteuer zu subtrahieren, da maßgebliche Berechnungsgrundlage nur der Netto-Reinertrag ist. Erörtert werden soll ja gerade, was am Ende eines Wirtschaftsjahres an Gewinn beim potentiellen Erwerber voraussichtlich „hängen bleiben wird“. Die Ertragssteuer beträgt ca. 35 % des verbleibenden Gewinns.
Nachhaltiger Reinertrag
Aus den zuvor genannten Positionen Überschüsse, Unternehmerlohn und Ertragssteuer ergibt sich der nachhaltige Reinertrag.
Beispielhaft dargestellt:
Praxis A Praxis B
Umsatzprognose 500.000,- EUR 700.000,- EUR
./. Kostenprognose 260.000,- EUR 340.000,- EUR
= Praxisgewinn 240.000,- EUR 360.000,- EUR
./. Unternehmerlohn 110.000,- EUR 110.000,- EUR
= Ertrag (vor Steuern) 130.000,- EUR 250.000,- EUR
./. Ertragssteuer 45.500,- EUR 87.500,- EUR
= Nachhaltiger Reinertrag 84.500,- EUR 162.500,- EUR
Multiplikator/ Rentenbarwertfaktor
Sich wiederum am Reproduktionsgedanken orientierend ist nunmehr zu ermitteln, welche Zeit es in Anspruch nehmen würde, um eine vergleichbare Praxis wie das Bewertungsobjekt aufzubauen. Dieser in Jahren zu bemessende Zeitraum dient dann als Multiplikator, um vom zur vor ermittelten nachhaltigen Reinertrag auf den GoodWill der Praxis schließen zu können. Der (Ergebnis-)Zeitraum ist das Produkt aus unternehmensbezogenen (innerbetriebliche / mikroökonomische Daten) sowie volkswirtschaftlichen Basisdaten (makroökonomische
Daten), kurzum:
EZ UBFaktor x VBFaktor
- EZ = Ergebniszeitraum
- UBFaktor = Unternehmensbasisdaten-Faktor/Mikroökonomischer Faktor
- VBFaktor = Volkswirtschaftsbasisdaten-Faktor / Makroökonomischer Faktor
Der so ermittelte Ergebniszeitraum ist dann in einem letzten Schritt mit dem sog. Kalkulations-/Kapitalisierungszinssatz zu diskontieren, um den tatsächlichen (auf den Bewertungsstichtag bezogenen) Barwert der für die Zukunft vorausgesagten Gewinne der Praxis zu erhalten.
Mikroökonomische Faktoren (UB-Faktor)
Zur Ermittlung des UB-Faktors sind die unternehmensspezifisch relevanten Einzelfaktoren festzulegen und auf eine gleichwertige Basis umzurechnen, was im Regelfall die Anzahl der sich aus den mikroökonomischen Gegebenheiten ergebenden Jahre ist. Der durchschnittliche Wert aller Faktoren bildet schlussendlich den Wert des mikroökonomischen Faktors ab, wobei sich anhand bereits erfolgter Bewertungen von Arztpraxen aus der Vergangenheit ein allgemein anerkanntes Maximum von 6 Jahren herausgebildet hat; die Wertigkeit der einzelnen Faktoren bestimmt, wie sehr der UB-Faktor an das Maximum heranreicht.
Zu den wesentlichen Einzelfaktoren gehören insbesondere:
- die Anzahl der Praxisinhaber
- die Anzahl angestellter/behandelnder Ärzte
- Anzahl der Spezialisierungen und Grad der jeweiligen Spezialisierung
- der Anteil des Privatpatientenumsatzes
- das Verhältnis der Fallzahlen der Praxis zum Durchschnitt der jeweiligen Fachgruppe.
Auch weitere Faktoren wie bspw. die Altersstruktur der Patienten können im Einzelfall von Bedeutung sein. Ob weitere Faktoren essentiell sind und wie diese sowie die bereits grundlegend wichtigen Faktoren zu bewerten sind ist abermals Auslegungssache; des Weiteren sind auch wiederum komplizierte, für den Laien kaum verständliche Umrechnungsmethoden für die Ermittlung der einzelnen Faktoren erforderlich.
Makroökonomische Faktoren (VB-Faktor)
Zu den rein unternehmensprägenden Faktoren sind zusätzlich auch die des Marktumfeldes der Praxis zu betrachten. Je nach Ortslage und den damit zusammenhängenden weiteren Gegebenheiten ergeben sich regelmäßig gewichtige Zu- oder Abschläge. Auch der BGH fordert gemäß seiner Urteilsbegründung (Az.: XII ZR 40/09), dass der Standort, die Art und Zusammensetzung des Patientenstamms, der Konkurrenzsituation und ähnliche Faktoren bei der Bewertung einer Praxis Berücksichtigung zu finden haben. Offen gelassen hat der BGH jedoch, wie genau die einzelnen Faktoren in die Bewertung des konkreten Falls einzubeziehen sind; die Gewichtung und Berechnung verbleibt somit auch hier in der Hand des jeweiligen Gutachters.
Als den VB-Faktor beeinflussende Faktoren gelten:
- das Durchschnittalter der Bevölkerung
- das Bevölkerungswachstum/ -entwicklung
- die Bevölkerungsdichte (Einwohner pro qkm)
- das Einkommen der Bevölkerung in Bezug auf die Jahresarbeitsentgeltgrenze (JAEG)
- der Kaufkraftindex
- die Arbeitslosenquote
- Haushalte mit Kindern
- bereits niedergelassene Ärzte (Konkurrenzsituation)
- u.s.w.
Die einzelnen Faktoren werden auf einer Skala von 0 bis 2 anhand der Postleitzahlposition bewertet, welche der Praxisstandort innerhalb des ganzen Bundesgebietes einnimmt. Hat das jeweilige Gebiet im Vergleich zu den anderen einen entsprechend hohen Kaufkraftindex, so erhält dieser Faktor einen entsprechend höheren Wert. Grundsätzlich besteht auch die Möglichkeit, einzelne Werte aufgrund ihrer besonderen Bedeutung für die jeweilige Praxis stärker zu gewichten. So mag ein entsprechend höheres Durchschnittalters gerade von Vorteil für eine geriatrische Praxis sein, wohingegen für eine Kinderarztpraxis dies vielmehr einen Nachteil darstellen würde; dieser Umstand scheint in Bezug auf das Bewertungsobjekt letztlich auch ausschlaggebender als bspw. die Arbeitslosenquote zu sein.
Weitere Umstände haben darüber hinaus ebenso Beachtung zu finden: Während sich also bspw. der Patientenstamm einer regulären Praxis aus der umliegenden Bevölkerung zusammensetzt, so spielt die Ortslage bei hochspezialisierten Praxen mit einem über das eigene PLZ-Gebiet hinausreichenden Einzugsbereich eine weitaus geringere Rolle. Der durchschnittliche Wert aller herangezogenen Faktoren bildet schließlich wiederum den VB-Faktor.
Kalkulations-/Kapitalisierungszinssatz
Der sich aus UB- und VB-Faktor erschließende Ergebniszeitraum ist nun in einem letzten Schritt zu diskontierten, um den Barwert der prognostizierten Zukunftsgewinne der Praxis zu bestimmen. Hierzu ist der Kalkulations- bzw. Kapitalisierungszinssatz zu ermitteln und auf den Ergebniszeitraum anzuwenden.
Der Kalkulations-/Kapitalisierungszinssatz dient der Abzinsung des zukünftigen Erfolges auf den Tag der Bewertung. Dieser Zinssatz wird nach dem Opportunitätskostenprinzip aus der optimalen alternativen Anlagemöglichkeit des Erwerbers abgeleitet. Wird der Erwerb vollzogen, verzichtet der Erwerber in der Folge auf die Rückflüsse aus einer alternativen Anlage. Die entgangene Rendite der Alternativanlage entspricht den Opportunitätskosten des Erwerbers.
Bei einem Kalkulationszinssatz handelt es sich selten um einen exakten Zins, sondern vielmehr um eine Zinsspanne, durch welche sich verschiedene Situationen und mögliche Szenarien einbeziehen lassen. Besagter Zinssatz setzt sich aus einem Basiszins sowie einem Risikozuschlag zusammen. Der Basiszinssatz wird anhand erstrangiger festverzinslicher Alternativ(kapital)anlagen festgelegt (bspw. aus der Umlaufrendite der monatlichen Berichte der Bundesbank), der Risikozuschlag trägt den Unwägbarkeiten einer Investition in eine Arztpraxis Rechnung.
Entsprechend der Kapitalkostenempfehlung des Fachausschusses für Unternehmensbewertung u. Betriebswirtschaft des IDW (kurz FAUB) aus Oktober 2019 beträgt die Marktrisikoprämie vor persönlichen Steuern auf 6 – 8 %. Da für die Ermittlung objektivierter Unternehmenswerte grundsätzlich der Einfluss persönlicher Steuern der Anteilseigner zu berücksichtigen ist, erfolgte vor dem Hintergrund des geltenden Abgeltungssteuersystems eine Überleitung zu einer Risikoprämie nach persönlichen Steuern, welche auf eine Bandbreite von nunmehr 5 – 6,5 % festgelegt worden ist.
Der Kapitalisierungszinssatz errechnet wie folgt:
Basiszinssatz 2,500 % (Stand Juni 2023)
./. Persönliche Steuern 26,375 % – 0,264 %
Basiszinssatz nach Steuern 2,236 %
+ Risikozuschlag nach Steuern* 5,75 % (mittlere Marktrisikoprämie)
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Kapitalisierungszinssatz 7,986%
* Der Risikozuschlag wurde hier mit der Marktrisikoprämie gleichgesetzt. Grundsätzlich wäre die Marktrisikoprämie noch mit einem sogenannten Betafaktor zu multiplizieren, welcher das ungefähre Risiko der jeweiligen Branche des zu bewertenden Unternehmens bemisst. Da der Beta-Faktor jedoch anhand von Börsendaten ermittelt wird, welche bei nicht-börsennotierten Praxen gerade nicht vorliegen, gestaltet sich dessen Ermittlung zutiefst kompliziert. Es empfiehlt sich von daher, den Betafaktor ertragswertneutral mit 1,0 anzusetzen.
Bei einem mittleren (nicht diskontiertem) Ergebniszeitraum von 6 Jahren, einem Basiszinssatz von 2,5 % und einem Kapitalisierungszinssatz von 7,986 % erhält man letztendlich einen Multiplikator/Rentenbarwertfaktor von 4,54. Anhand dieses Multiplikators ergeben sich für die zuvor errechneten Reinerträge der Praxen A und B (vgl. oben):
Praxis nachhaltiger Reinertrag Rentenbarwertfaktor ideeller Wert
A 84.500,- EUR 4,54 383.630,- EUR
B 162.500,- EUR 4,54 737.750,- EUR
Fazit zu Multiplikator/Rentenbarwertfaktor
Die Höhe des GoodWills variiert stark aufgrund der mikro- und makroökonomischen Faktoren der einzelnen Praxis. So kann der GoodWill aufgrund eines niedrigen Multiplikators (< 1) gar hinter dem zunächst einmal festgestellten Reinertrag zurückzubleiben, kann sich anhand eines entsprechend hohen Wertes (> 4) ebenso immens steigern.
Im Endeffekt kommt es darauf an, die tatsächlichen Gegebenheiten – mikro- wie makroökonomische Faktoren – der zu bewertenden Praxis objektiv zu beurteilen und rechnerisch transparent darzustellen. Eine Praxis in einem „guten“ makroökonomischen Gebiet (hohe Kaufkraft, für die Praxis günstige Altersstruktur der Patienten, kaum Konkurrenz usw.) und infolge mit einem entsprechend hohem makroökonomischem Gesamtfaktor wird dennoch ebenso stark durch ihre mikroökonomischen Faktoren beeinflusst. Dies gilt genauso umgekehrt: Eine hervorragende mikroökonomische Bewertung führt nicht zwangsläufig zu einer guten Gesamtbewertung, wenn der Standort der Praxis in einem vergleichsweise ungünstigen makroökonomischen Umfeld gelegen ist.
Gesamtfazit
Der Gesamtwert einer freiberuflichen Praxis setzt sich aus deren greifbaren materiellen Werten sowie deren ideellen Werten zusammen. Wie aufgezeigt bestehen bei der Ermittlung dieser Werte erheblich Hürden sowie ein offenkundig weitreichender Bewertungsspielraum, weswegen es letztlich doch zu recht abweichenden Ergebnis kommen kann. Nichts desto trotz ist mit dem modifizierten Ertragswertverfahren eine Methode entwickelt worden, welche die vorher kaum fassbaren Werte einer Praxis/ eines Unternehmens zu objektivieren ermöglicht. Dass es für die exakte Ermittlung des Wertes letztlich der Beauftragung eines fachkundigen Gutachters bedarf, ist in Anbetracht der nicht unerheblichen Kaufpreisspannen dennoch lohnenswert und nachdrücklich zu empfehlen.