Die Haftung des Aufsichtsrats einer Aktiengesellschaft (AG) war in einem Gerichtsverfahren vor dem OLG Hamm zu beurteilen. Das Gericht verurteilte Aufsichtsratsmitglieder der AG zu Schadensersatz wegen unterlassener Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen gegen Mitglieder des Vorstandes der AG (Arcandor).
Der Fall
(sehr stark gekürzt)
Die Klägerin ist eine Aktiengesellschaft in Insolvenz.
Die Beklagten waren zu unterschiedlichen Zeiten Mitglieder des Aufsichtsrates der AG.
Die AG betrieb Warenhäuser, die renovierungs- und modernisierungsbedürftig waren. Eigentümer der einzelnen Warenhäuser waren jeweils die AG angehörende Immobiliengesellschaften. Der Vorstand der AG entschloss, die Renovierung und Modernisierung der Objekte nicht selbst durchzuführen, sondern die Objekte im Rahmen einer Kooperation mit der sog. C/D-Gruppe an diese zu veräußern und nach Durchführung der Sanierungs- und Modernisierungsarbeiten wieder anzumieten. Die Konditionen der abzuschließenden Mietverträge waren in den Mietverschaffungsverträgen im Einzelnen bestimmt. Nach Sanierung der Objekte erfolgte jeweils einige Jahre später der Abschluss der Mietverträge über eine Dauer von jeweils 20 Jahren.
Die Veräußerungs- und Mietverträge gingen in unangemessener Weise zulasten der AG. Ausschließlich Dritte profitierten von desem Konstrukt. Die Belange der AG wurden quasi nicht berücksichtigt.
Der Aufsichtsrat der AG prüfte später, ob gegen die Vorstände der AG Schadensersatzansprüche geltend zu machen seien, weil die Vorstände wegen der einseitigen Verträge ihre Pflichten verletzt haben könnten. Nach ihren unzureichenden Prüfungen kamen sie zu dem unrichtigen Ergebnis, Schadensersatzansprüche gegen die Vorstand der AG fallen zu lassen.
Das Urteil
Haftung des Vorstands nach § 93 AktG
Vorstandsmitglieder sind zum Ersatz des aus einer Pflichtverletzung entstandenen Schadens der AG verpflichtet (§ 93 Abs. 2 Satz 1 AktG).
Pflichtverletzung
Eine Pflichtverletzung liegt beispielsweise vor, wenn für de AG abgeschlossene Verträge wirtschaftlich nachteilig sind und dies für die Vorstände erkennbar war. Die Vorstände durften also nicht davon ausgehen, dass der Abschluss der Verträge dem Wohl der Gesellschaft diente (§ 93 Abs. 1 S. 2 AktG).
Diese Grenze ist überschritten, wenn das mit der unternehmerischen Entscheidung verbundene Risiko in völlig unverantwortlicher bzw. schlechthin unvertretbarer Weise falsch beurteilt worden ist.
Ist die unternehmerische Entscheidung nicht aufgrund angemessener Informationen getroffen worden, kann ein Schadensersatzanspruch entstehen, § 93 Abs. 1 S. 2 AktG.
„Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs muss der Vorstand in der konkreten Entscheidungssituation alle verfügbaren Informationsquellen tatsächlicher und rechtlicher Art ausschöpfen und auf dieser Grundlage die Vor- und Nachteile der bestehenden Handlungsoptionen sorgfältig abwägen (vgl. BGH, Urteil vom 18.06.2013 – II ZR 86/11, … zu § 43 Abs. 2 GmbHG). Bevor ein AG-Vorstand eine Ermessensentscheidung trifft, hat er die Pflicht, die Rechtslage zu prüfen, und falls er nicht über die erforderliche Sachkunde verfügt, unter umfassender Darstellung der Verhältnisse der Gesellschaft und Offenlegung der erforderlichen Unterlagen von einem unabhängigen, für die zu klärende Frage fachlich qualifizierten Berufsträger beraten zu lassen und die erteilte Rechtsauskunft einer sorgfältigen Plausibilitätskontrolle zu unterziehen (BGH, Urteil vom 20.09.2011 – II ZR 234/09, BGH, Urteil vom 28.04.2015 – II ZR 63/14 …).“
VIII ZR 282/07 |
An diesem Maßstab gemessenen ist eine Berufung auf die Regelungen der business judgment rule ausgeschlossen.
Darlegungs- und Beweislast
Nach ständiger Rechtsprechung des BGH trifft die AG im Rechtsstreit um Schadensersatzansprüche gegen eines ihrer Vorstandsmitglieder die Darlegungs- und Beweislast nur dafür, dass und inwieweit ihr durch ein Verhalten des Vorstandsmitglieds in dessen Pflichtenkreis ein kausaler Schaden erwachsen ist, wobei der AG die Erleichterungen des § 287 ZPO zugutekommen können.
Hingegen hat das betreffende Vorstandsmitglied darzulegen und erforderlichenfalls zu beweisen, dass es seinen Sorgfaltspflichten nachgekommen ist oder ihn kein Verschulden trifft oder dass der Schaden auch bei pflichtgemäßem Alternativverhalten eingetreten wäre (BGH, Urteil vom 22.02.2011 – II ZR 146/09).
Zwischenergebnis
Im hier zu entscheidenden Fall bejahte das OLG Hamm eine Haftung der Alt-Vorstände der AG. Die die AG stark benachteiligten Verträge (Abschluss der Kauf- und Mietverschaffungsverträge) erfüllen die Voraussetzungen von Pflichtverletzungen der Vorstandsmitglieder und führen zur Vorstandshaftung gegenüber der AG. Es ist von einer objektiven Pflichtwidrigkeit des Abschlusses der teilweise wirtschaftlich erheblich nachteiligen Verträge durch Vorstände der AG auszugehen, weil in dem festgestellten Umfang bei einem Teil der Objekte die Kaufpreise von den Verkehrswerten und die in den Mietverschaffungsverträgen vereinbarten Jahresmieten von den realistischen Mieten in der Gesamtschau in einem Ausmaß abgewichen haben, dass dies trotz der oben dargelegten Umstände nicht mehr im Ermessen der business judgment rule der seinerzeit verantwortlichen Vorstände gelegen hat.
Haftung des Aufsichtsrats
Schadensersatzzahlungen treffen Aufsichtsratsmitglieder nach §§ 116 S. 1, 93 Abs. 2 AktG, wenn durch eine Pflichtverletzung der Aufsichtsratsmitglieder ein Schaden der AG entstanden ist.
Zu den Amtspflichten der Aufsichtsratsmitglieder zählt die Überwachung des Vorstandes und ggf. Verfolgung von Pflichtverstößen einschließlich der Geltendmachung entsprechender Schadensersatzansprüche (vgl. grundlegend BGH, Urteil vom 21.04.1997 – II ZR 175/95).
Die Darlegungs- und Beweislast hierfür trägt die AG. Wollen sich die Aufsichtsratsmitglieder geben den Vorwurf pflichtwidrigen und schuldhaften Verhaltens exkulpieren, tragen die Aufsichtsratsmitglieder die Darlegungs- und Beweislast.
Durch Verhalten der Aufsichtsratsmitglieder in ihrem Pflichtenkreis kausal verursachter Schaden
Schaden durch Unterlassung
Ein ersatzfähiger Schaden entstand der AG durch Pflichtverletzungen von Aufsichtsratsmitgliedern der AG. Denn die verantwortlichen Aufsichtsräte unterließen es, Schadensersatzansprüchen gegen die für die in Streit stehenden Verträge verantwortlichen Vorstände bis zum Verjährungseintritt geltend zu machen. Die verantwortlichen Aufsichtsräte befürworteten, von der Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen weiterhin abzusehen, obwohl Verjährungseintritt drohte.
Interessenabwägung – gewichtige Interessen und Belange der AG
Im Rahmen der gebotenen Gesamtabwägung sprachen keine derart gewichtigen Interessen und Belange der AG, dass die AG den entstandenen Schaden hätte ersatzlos hinnehmen müssen. Die hierzu geforderte Abwägung zwischen den Vorteilen der Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen und den hiermit verbundenen Nachteilen fand im Ergebnis nicht in einer dem strengen rechtlichen Maßstab genügenden Art und Weise statt.
Kausalität
Der kausal durch das Unterlassen der Aufsichtsratsmitglieder verursachte Schaden entstand im unterbliebenen Zufluss von Schadensersatzleistungen. Bei Inanspruchnahme der Vorstände im erforderlichen Umfang wäre der verursachte Schaden nicht entstanden, weil
– ein entsprechender – heute nicht mehr durchsetzbarer – Schadensersatzanspruch gegen die Vorstände bestand,
– die Ansprüche realisierbar gewesen wären und
– der Schaden bis heute nicht anderweitig kompensiert worden ist.
Pflichtwidrigkeit
Die Nichtgeltendmachung von Schadensersatzansprüchen gegen die damals verantwortlichen Vorstände war pflichtwidrig. Den verantwortlichen Mitgliedern des Aufsichtsrats ist anzulasten, dass sie bei der Entscheidungsfindung nicht alle wesentlichen maßgeblichen Faktoren aufgeklärt und bei der Abwägung berücksichtigt, insbesondere die für die Gesellschaft günstigsten Vorgaben nicht hinreichend einbezogen haben.
Verschulden der Aufsichtsratsmitglieder
Am Maßstab der §§ 116 Abs. 1 S. 1, 93 Abs. 2 S. 2 AktG gemessen liegt vermutetes Verschulden im Zusammenhang mit der schadenskausalen Pflichtverletzung der Aufsichtsratsmitglieder vor.
Die Pflichtverletzung der Aufsichtsratsmitglieder war mangels hinreichender Entlastung fahrlässig gemäß § 276 Abs. 1 u. 2 BGB. Die Fahlässigkeit lag darin, dass die verantwortlichen Aufsichtsratsmitglieder die im Verkehr erforderliche Sorgfalt nicht hinreichend beachteten,weil
– sie die Realisierbarkeit von Schadensersatzansprüchen deutlich zu negativ einschätzten,
– sie aufgrund des ersten Gutachtens zu Unrecht von einer wahrscheinlich fehlenden Einstandspflicht des Versicherers sowie
– ungeprüft von einer Realisierbarkeit des Ersatzanspruchs gegenüber dem Privatvermögen der Vorstände in Höhe von lediglich 10 bis 20 Mio. EUR ausgingen,
– ohne sich mit Chancen und Höhe der Haftung zugunsten der AG hinreichend befasst zu haben.
Ergebnis
Das Urteil zeigt …
Weiteres zur Haftung von Vorstand und Aufsichtsrat
Zur Haftung des GmbH-Geschäftsführers siehe hier.