Der BGH hatte über Schadensersatz wegen ausgefallener Strom- und Gaslieferungen auf der Basis eines Liefervertrags nebst Nebenforderungen zu entscheiden. Der Lieferant steckte bereits bei Vertragsschluss mit dem Stromkunden in einer Krise. Der Strom- und Gaskunde leistete in dieser Zeit und danach Abschlagszahlungen.
Der Fall
(Für den Leser zum besseren Verständnis leicht vereinfacht)
Der Strom- und Gaskunde (Kläger oder Kunde) schloss am 9. Februar 2010 einen Vertrag über Strom- und einen Vertrag über Gaslieferung mit dem Lieferanten ab.
Der Beklagte war Geschäftsführer des Lieferanten.
Im Jahr 2009 konnte der Lieferant seine Verbindlichkeiten nicht mehr begleichen. Ebenfalls im Jahr 2009 erfuhr der Geschäftsführer des Lieferanten von Wirtschaftsprüfern von einer Deckungslücke und einer Illiquidität des Lieferanten.
Noch im Jahr 2009 informierte der Geschäftsführer den Aufsichtsrat des Lieferanten darüber, dass der Lieferant über die Hälfte seines Stammkapitals verloren habe und ein negatives Stammkapital aufweisen würde. In der 25. Kalenderwoche 2009 habe man den Tatbestand der Zahlungsunfähigkeit festgestellt. Eine positive Fortführungsprognose könnten Wirtschaftsprüfer nicht stellen.
Der Lieferant forderte vom Kunden in 2010 und 2011 mehrere Abschlagszahlungen, die in der Folgezeit vom Konto des Kunden abgebucht bzw. bezahlt wurden. Strom- und Gaslieferungen an den Kunden erfolgten nicht.
Im März 2011 erfuhr der Kunde, dass der Lieferant in einer Krise stecke. Kurz danach wurde über das Vermögen des Lieferanten das Insolvenzverfahren eröffnet.
Der Kunde vertritt die Auffassung, der Lieferant sei spätestens Mitte 2009 zahlungsunfähig, spätestens seit Anfang 2010 auch überschuldet gewesen.
Das Urteil
Der BGH entschied, dass im Fall einer Beseitigung der Zahlungsunfähigkeit in 2010 oder 2011 der Lieferant in 2010 auch überschuldet gewesen sein könnte. Das OLG habe diese Möglichkeit übersehen und nicht geprüft. Der Schadensersatzanspruch des Kunden gegen den Geschäftsführer könnte sich auch aus einer Insolvenzverschleppung wegen Überschuldung des Lieferanten ergeben.
1. Schadensersatz
Ein Schadensersatzanspruch des Kunden gegen den Geschäftsführer des Lieferanten ist aus § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. § 15a Abs. 1 Satz 1 InsO gegeben, wenn
- der Geschäftsführer es trotz Insolvenzreife des Lieferanten unterließ, einen Antrag auf Insolvenzeröffnung zu stellen,
- der Kunde mit dem unerkannt insolvenzreifen Lieferanten in Vertragsbeziehungen trat und
- der Kunde für seine Abschlagszahlungen auf Strom und Gas keine Gegenleistungen erhielt.
Denn der seine Insolvenzantragspflicht verletzende Geschäftsführer hat dem Kunden (Neugläubiger) den Schaden zu ersetzen, der ihm dadurch entsteht, dass er infolge des Vertragsschlusses mit dem insolvenzreifen Lieferanten im Vertrauen auf dessen Solvenz diesem noch Abschlagszahlungen als Vorleistungen zur Verfügung stellt und dadurch Kredit gewährt, ohne einen entsprechend werthaltigen Gegenanspruch oder eine entsprechende Gegenleistung zu erlangen.
2. Insolvenzantragspflicht
Wird eine GmbH zahlungsunfähig oder überschuldet, haben die Geschäftsführer ohne schuldhaftes Zögern, spätestens aber drei Wochen nach Eintritt der Zahlungsunfähigkeit oder Überschuldung, einen Eröffnungsantrag zu stellen, § 15a Abs. 1 InsO.
3. Insolvenzrechtliche Überschuldung
Nach § 19 Abs. 2 Satz 1 InsO liegt Überschuldung vor, wenn
- das Vermögen des Schuldners die bestehenden Verbindlichkeiten nicht mehr deckt (rechnerische Überschuldungsbilanz), es sei denn,
- die Fortführung des Unternehmens ist nach den Umständen überwiegend wahrscheinlich (positive Fortführungsprognose).
Die rechnerische Überschuldung ist grundsätzlich auf der Grundlage einer Überschuldungsbilanz festzustellen, in der die stillen Reserven aufzudecken und Vermögenswerte des Lieferanten mit seinen aktuellen Liquidationswerten auszuweisen sind. Eine rechnerische Überschuldung kann auch aus der Indizwirkung geschlossen werden, die einer Handelsbilanz zukommen kann, wenn sich aus ihr ein nicht durch Eigenkapital gedeckter Fehlbetrag ergibt.
Ergibt sich aus der Überschuldungsbilanz eine rechnerische Überschuldung, ist in einem zweiten Schritt eine Fortbestehensprognose zu erstellen. Eine positive Fortbestehensprognose setzt nicht nur den Fortführungswillen des Schuldners voraus. Außerdem muss das Unternehmen objektiv überlebensfähig sein. Ein belastbares Unternehmenskonzept – sog. Ertrags- und Finanzplan – mit einer Prognoserechnung ist vorzulegen. Aus der Prognoserechnung muss erkennbar sein, dass das Unternehmen mittelfristig mit überwiegender Wahrscheinlichkeit über ausreichende Liquidität verfügen wird, um seine im jeweiligen Zeitabschnitt fälligen Verbindlichkeiten zu erfüllen. Der Prognosezeitraum soll grundsätzlich etwa zwei Jahre (bzw. das laufende und das folgende Geschäftsjahr) betragen. Eine überwiegende Wahrscheinlichkeit der Fortführung des Unternehmens liegt vor, wenn diese zu mehr als 50 % wahrscheinlich ist.
Der objektive und subjektive Tatbestand einer Insolvenzverschleppung als Dauerdelikt muss zur Zeit des zum Schaden des „Neugläubigers“ führenden Geschäftsabschlusses zwischen ihm und dem Lieferanten bzw. in der zum Schaden des Strom- und Gaskunden führenden Geschäftssituation noch vorliegen.
Für das Vorliegen der objektiven Voraussetzungen der Insolvenzantragspflicht und damit auch für die Überschuldung des Lieferanten ist der Strom- und Gaskunde darlegungs- und beweisbelastet.
Der BGH stellte fest:
Es spricht wenig dafür, dass in 2010 von einer nachhaltigen Beseitigung dieses Eröffnungsgrunds der Überschuldung ausgegangen werden kann.
So hat der Geschäftsführer den Aufsichtsrat über die Krise der Lieferantin, insbesondere über eine bilanzielle Überschuldung informiert und konsultierte Wirtschaftsprüfer hätten keine positive Fortführungsprognose stellen können. Diese Angaben des Geschäftsführers haben Indizwirkung für die insolvenzrechtliche Überschuldung der Lieferantin. Danach kann nicht ausgeschlossen werden, dass 2010 real eine Überschuldung im insolvenzrechtlichen Sinn vorlag und eine nachhaltige Erholung des Lieferanten ausblieb.
„Ist die Insolvenzreife für einen früheren Zeitpunkt bewiesen, so gilt … der Nachweis der im Zeitpunkt des Geschäftsabschlusses noch andauernden Verletzung der Insolvenzantragspflicht jedenfalls bei relativ zeitnah erteilten Aufträgen als geführt, sofern der beklagte Geschäftsführer nicht seinerseits darlegt, dass im Zeitpunkt der Auftragserteilung die Überschuldung nachhaltig beseitigt und damit die Antragspflicht – wieder – entfallen war. … Diesen zeitlichen Zusammenhang ist bei einem Zeitraum von neun Monaten bis zu einem Jahr zwischen der festgestellten Überschuldung und den nachfolgenden Geschäftsabschlüssen als gegeben angesehen, so dass bei festgestellter Überschuldung in 2009 der Nachweis der Überschuldung des Lieferanten im Zeitpunkt der Begründung der Vertragsbeziehungen mit den Klägern im Februar und im Oktober 2010 als geführt angesehen werden könnte.“
Die eigenen Mitteilungen des Geschäftsführers an die Lieferantengruppe sprechen gegen eine Verbesserung der Vermögenslage des Lieferanten im Jahr 2010 bei unterstellter Überschuldung im Jahr 2009. Zudem legt die weitere Behauptung, der Geschäftsführer hätte die Geschäfte des Lieferanten in der Art eines Schneeballsystems geführt, drohende Zahlungsunfähigkeit nahe. Die drohende Zahlungsunfähigkeit schließt objektiv eine positive Fortbestehensprognose der Gesellschaft im Sinne des § 19 Abs. 2 Satz 1 InsO aus.
Unsere Empfehlung
Ein Geschäftsführer einer GmbH ist verpflichtet, zu jeder Zeit! die insolvenzrechtliche Lage des Unternehmens im Auge zu behalten. Unterlässt er die ständige Prüfung, ob eine Insolvenzlage für das Unternehmen besteht, ist er großen Haftungsgefahren ausgesetzt. Der Geschäftsführer ist insbesondere dann, wenn er auch Gesellschafter der GmbH ist, nicht in der Lage, objektiv zu beurteilen, ob ein Insolvenzantrag gestellt werden muss. Der Geschäftsführer lässt sich zu sehr vom Prinzip Hoffnung leiten. Berater sind bei der Insolvenzprüfung oft auch von subjektiven Gründen beeinflusst, insbesondere dann, wenn zwischen GmbH und Berater eine langjährige Vertragsbeziehung besteht. Der Berater ist dann ebenso Haftungsgefahren ausgesetzt.