Anfang September 2021 wurde die Möglichkeit zur Durchführung einer virtuellen Hauptversammlung der Aktiengesellschaft bis zum Ablauf des 31.08.2022 verlängert (§ 7 Abs. 1 COVMG). Der Gesetzgeber hat sich auf die reine Verlängerung des virtuellen Formats beschränkt und keine inhaltlichen Änderungen des COVMG vorgenommen. Die Verlängerung ist am 15.09.2021 in Kraft getreten und läuft am 31.08.2022 aus.
Ob der Vorstand eine virtuelle Hauptversammlung einberufen kann, liegt in seinem pflichtgemäßen Ermessen
Die weitere Verlängerung des COVMG erfolgt nach Gesetzesbegründung rein „vorsorglich“ (Beschlussempfehlung und Bericht des Haushaltsausschusses, BT-Drs. 19/32275, 30), nämlich vor dem Hintergrund „der ungewissen Fortentwicklung der Pandemie-Situation und daraus resultierender Versammlungsbeschränkungen“. Demgemäß „sollte[n]“ die Gesellschaften „von diesem Instrument im Einzelfall nur dann Gebrauch [machen], wenn dies unter Berücksichtigung des konkreten Pandemiegeschehens und im Hinblick auf die Teilnehmerzahl der jeweiligen Versammlung erforderlich erscheint “(Simons/Hauser: Zu Form und Ausgestaltung der Hauptversammlung in der HV-Saison 2022, NZG 2021, 1340). Aus dieser Gesetzesbegründung ergibt sich der Ausnahmecharakter einer virtuellen Hauptversammlung. Der Vorstand kann also nicht nach Belieben eine virtuelle Hauptversammlung einberufen, sondern nur dann, wenn sich einer Präsenz-Hauptversammlung pandemiebedingte Hindernisse in den Weg stellen. Die Beantwortung der Frage nach dem Vorliegen eines solchen Bedürfnisses obliegt dem Vorstand, der hierüber nur nach seinem pflichtgemäßen Ermessen entscheiden kann.
Folgende Konstellationen sind denkbar:
- Zum Zeitpunkt der Einberufung steht bereits fest, dass eine Versammlung der geplanten Größenordnung pandemiebedingt (hoheitliches Verbot, Unmöglichkeit den erforderlichen Sicherheitsabstand einzuhalten) nicht durchgeführt werden kann. Hier liegt der Fall einfach: Das Ermessen des Vorstands ist auf null reduziert; der Vorstand muss eine virtuelle Hauptversammlung
- Auch einfach liegt der Fall, wenn kein ernsthafter Zweifel an der Durchführbarkeit einer Präsenz-Hauptversammlung Dann ist auch eine Präsenz-Hauptversammlung abzuhalten.
- Komplizierter wird es jedoch in dem weiten zwischen den oben genannten beiden Fällen liegenden Bereich. Wenn etwa COVID-19 immer noch ein gesellschaftliches Risiko darstellt, ein Versammlungsverbot jedoch nicht besteht, trifft den Vorstand die Verantwortung für die Wahl des richtigen Versammlungsformats. Der Vorstand muss in diesem Fall eine prognostische Entscheidung, die er gemäß 93 Abs. 1 S. 2 AktG nur auf informierter Basis unter Abwägung der Vor- und Nachteile für die Gesellschaft treffen darf, treffen (vgl. Simons/Hauser: Zu Form und Ausgestaltung der Hauptversammlung in der HV-Saison 2022, NZG 2021, 1340).
Für diese dritte Fallgruppe sind die Interessen der Aktionäre an einer möglichst effizienten Wahrnehmung ihrer Rechte (Teilename-, Frage-, Auskunfts-, und Rederecht) gegen die Risiken für die Gesundheit der Teilnehmer der Hauptversammlung abzuwägen. Der Vorstand sollte sich dabei verstärkt an den lokalen Gegebenheiten ausrichten.
Für diese Abwägung können folgende Kriterien eine Rolle spielen:
- Zwingend zu beachten sind öffentlich-rechtliche Restriktionen, wie etwa Versammlungsbeschränkungen, Hygienevorschriften und Abstandsregelungen.
- Das konkrete Pandemiegeschehen und das daraus resultierende Gesundheitsrisiko. Das gilt nicht nur für die Aktionäre und etwa Vorstand, Aufsichtsrat und Notar, sondern auch für das Service-Personal und die zur Durchführung der Hauptversammlung erforderlichen Mitarbeiter der Gesellschaft. Dafür werden die einschlägigen Kennzahlen (wie z.B. die 7-Tage-Inzidenz, die Hospitalisierungsrate und die Impfquote) die wichtigsten Indikatoren sein.
- Die erwartete Anzahl der teilenehmenden Aktionäre, die räumlichen Gegebenheiten, die Be- und Entlüftungssituation und die Möglichkeiten zur Nutzung von Ausweich- und Warteflächen im Außenbereich.
- Die Möglichkeit teilnahmebegrenzender Maßnahmen, wie die generell zahlenmäßig Beschränkung der Teilnehmerzahl, das Angebot eines „hybriden“ Veranstaltungsformats oder die Durchführung der Versammlung unter 2G- oder 3G- Bei diesen Maßnahmen ist jedoch besondere Vorsicht geboten, da sie mit dem Grundsatz der Gleichbehandlung der Aktionäre (§ 53a AktG) in Einklang zu bringen sind und daher ein erhöhtes Anfechtungsrisiko für gefasste Beschlüsse besteht.
- Nicht in die Abwägung einzubeziehen braucht der Vorstand jedoch die Möglichkeit einer Verschiebung der Hauptversammlung, um eine Präsenzveranstaltung eventuell zu einem späteren Zeitpunkt zu ermöglichen. Aus § 1 Abs. 5 COVMG folgt, dass der Vorstand an dem von ihm gewählten Termin ungerührt festhalten kann (vgl. Simons/Hauser: Zu Form und Ausgestaltung der Hauptversammlung in der HV-Saison 2022, NZG 2021, 1340).
Der Vorstand hat also einen relativ weiten Ermessenspielraum für die Wahl der angemessenen Versammlungsform.
Faustregel:
Prognose-Unsicherheiten, die mehr oder weniger notgedrungen zum virtuellen Versammlungsformat führen, sind vom pflichtgemäßen Ermessen des Vorstands gedeckt (vgl. Simons/Hauser: Zu Form und Ausgestaltung der Hauptversammlung in der HV-Saison 2022, NZG 2021, 1340).
Auch die Ausgestaltung der virtuellen Hauptversammlung liegt im pflichtgemäßen Ermessen des Vorstands
Hat sich der Vorstand nach pflichtgemäßem Ermessen für eine virtuelle Hauptversammlung entschieden, so muss er auch deren weitere Modalitäten nach pflichtgemäßem Ermessen organisieren. Das gilt umso mehr, da der Gesetzgeber mit der jüngsten Verlängerung des COVMG bereits frühzeitig für Planungssicherheit bei den Unternehmen gesorgt und ihnen die Möglichkeit eröffnet hat, entsprechende Maßnahmen gründlich zu prüfen und rechtssicher in die Tat umzusetzen (Simons/Hauser: Zu Form und Ausgestaltung der Hauptversammlung in der HV-Saison 2022, NZG 2021, 1340).
Folgende Modalitäten dürften dabei von Interesse sein:
Firstverkürzungen
Da eine inhaltliche Änderung des COVMG nicht erfolgte, sondern nur die Verlängerung des virtuellen Formats geregelt wurde, besteht auch weiterhin die Möglichkeit der Verkürzung der Einberufungsfrist nach § 1 Abs. 3 COVMG. Angesichts der langfristigen Planbarkeit ist eine Verkürzung der Einberufungsfrist mit dem Risiko des Ermessensfehlgebrauchs behaftet und birgt daher auch ein erhöhtes Anfechtungsrisiko für gefasste Beschlüsse.
Beginn der Hauptversammlung
Fast allgemein üblich beginnen Hauptversammlungen um 10:00 Uhr. Einige Gesellschaften haben im Jahr 2021 ihre virtuellen Hauptversammlungen bereits um 09:00 Uhr beginnen lassen, um ,mehr Zeit für die Fragenbeantwortung etc. zu gewinnen. In der Praxis hat sich jedoch gezeigt, dass Hauptversammlungen, auch wenn sie später begannen, ohne Einbußen bei der Fragebeantwortung rechtzeitig beendet werden konnten. Der Vorstand muss also nicht zwingend einen früheren Beginn der virtuellen Hauptversammlung anbieten.
Öffentliche Übertragung der Hauptversammlung
Der Vorstand muss auch keine öffentliche Übertragung der virtuellen Hauptversammlung anbieten, da den Aktionären nach § 1 Abs. 2 Nr. 1 COVMG ohnehin eine Bild- und Tonübertragung offensteht und eine öffentliche Übertragung der Hauptversammlung demgegenüber keinen Mehrwert aufweist.
Vorabeinreichung von Fragen
Will der Vorstand keine in der Hauptversammlung gestellten Aktionärsfragen zulassen (hierfür sprechen gute Gründe) „kann“ er nach § 1 Abs. 2 S. 2 COVMG verlangen, dass diese vorab eingereicht werden; einen solchen Kanal muss er dann allerdings bis „spätestens einen Tag vor der Versammlung“ offenhalten. Die nach wie vor bestehende Möglichkeit zur Vorverlagerung etwaiger Aktionärsfragen dürfte – abgesehen von einer willkürlichen Entscheidung – keinen Ermessensfehlgebrauch begründen.
Stellungnahme- und Redemöglichkeit
Einige Gesellschaften haben im Jahr 2021 von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht, um eine Annäherung an Präsenz-Versammlungen zu erreichen. Angesichts der eingeschränkten Reaktionsmöglichkeiten der anderen Aktionäre während einer virtuellen Hauptversammlung ist eine Annäherung an eine Präsenz-Versammlung jedoch nicht wirklich erfolgt. Auch der erhebliche technische Aufwand zur Erreichung einer für alle Aktionäre wahrnehmbaren „Übertragungsfähigkeit“ von Live-Botschaften fällt zulasten dieser Möglichkeit ins Gewicht (Simons/Hauser: Zu Form und Ausgestaltung der Hauptversammlung in der HV-Saison 2022, NZG 2021, 1340). Aus diesem Grund muss der Vorstand in einer virtuellen Versammlung nicht zwingend Stellungnahme- und Redemöglichkeiten anbieten.
Vorabveröffentlichung der Vorstandsrede
Überraschenderweise hat nur eine kleine Anzahl von Unternehmen von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht. In der Vorabveröffentlichung der Vorstandsrede liegt ein mit nur geringem Aufwand zu erbringendes Opfer der Unternehmen, das mit einem spürbaren Gewinn für die zu Aktionäre verbunden ist (Simons/Hauser: Zu Form und Ausgestaltung der Hauptversammlung in der HV-Saison 2022, NZG 2021, 1340). Nur aufgrund dieses Vorteils ist der Vorstand zwar nicht verpflichtet, seine Rede im Voraus zu veröffentlichen, er muss aber gegebenenfalls eine abweichende Entscheidung plausibel begründen (vgl. Simons/Hauser: Zu Form und Ausgestaltung der Hauptversammlung in der HV-Saison 2022, NZG 2021, 1340).
Maßgeblicher Zeitpunkt für die Ermessensüberlegungen des Vorstands
Hinsichtlich der Ermessensüberlegungen des Vorstands ist grundsätzlich auf den Zeitpunkt abzustellen, zu dem die Einberufung der Hauptversammlung erfolgt (Simons/Hauser: Zu Form und Ausgestaltung der Hauptversammlung in der HV-Saison 2022, NZG 2021, 1340).
Im Einzelnen:
In der Praxis ist es so, dass die Entscheidungen über das Format und die Modalitäten der Hauptversammlung bereits geraume Zeit vor dem Einberufungstermin getroffen werden. Eine Planänderung ist dann oft nicht mehr möglich.
Soll statt der zunächst virtuell geplanten virtuellen Hauptversammlung eine Präsenz-Versammlung abgehalten werden, kann diese zwar in der Regel noch fristgemäß einberufen werden, organisatorisch aber nicht mehr durchgeführt werden, weil etwa kein geeigneter Versammlungsraum mehr buchbar ist oder die erforderlichen Dienstleister nicht mehr zur Verfügung stehen Im Einzelfall dürfte daher der „point of no return“ deutlich vor dem Einberufungstermin liegen. Insbesondere den meisten Publikumsgesellschaften wird man insoweit einen geschützten Prognosezeitraum von drei Monaten zugestehen müssen.
Eine sich zu diesem Zeitpunkt ergebende Veränderung der Verhältnisse muss jedoch nicht immer auch zu einer Änderung der früher bereits getroffenen Vorstandsentscheidung führen. Die Vorstandsentscheidung muss auf diesen Termin ausgerichtet sein. Das bedeutet der Vorstand muss zum Zeitpunkt der Entscheidungen über das Format und die Modalitäten der Hauptversammlung abschätzen, wie die Verhältnisse zum Zeitpunkt der Einberufung und dem Tag der Hauptversammlung sein werden. Ob die zum Zeitpunkt der Entscheidungsfindung prognostizierten Verhältnisse sich am Tag der Einberufung oder am Tag der Hauptversammlung tatsächlich eintreten, spielt dabei keine Rolle, wenn der Vorstand seine Entscheidung nach plausiblen Gesichtspunkten getroffen hat (vgl. Simons/Hauser: Zu Form und Ausgestaltung der Hauptversammlung in der HV-Saison 2022, NZG 2021, 1340).
Beispiel:
Nach der Einberufung der Hauptversammlung verfügt die Bundesregierung einen sogenannten „Freedom Day“, zu dem sämtliche zu diesem Zeitpunkt noch geltenden Corona-Beschränkungen aufgehoben werden. Hier ist die Gesellschaft nicht gezwungen, noch nachträglich unter möglicherweise unter Verschiebung des Hauptversammlungs-Termins auf eine Präsenz-Versammlung umzustellen. Im umgekehrten Fall (Präsenz-Versammlung einberufen, anschließend bedrohlicher Anstieg der Corona-Kennzahlen) gebietet es Gesundheitsschutz der Versammlungsteilnehmer, die ursprüngliche Entscheidung gründlich zu überdenken (Simons/Hauser: Zu Form und Ausgestaltung der Hauptversammlung in der HV-Saison 2022, NZG 2021, 1340).
Bis wann kann von den Erleichterungen des COVMG Gebrauch gemacht werden?
Mit dem 31.08.2022 läuft das COVMG automatisch aus. Für danach stattfindende Hauptversammlungen ist das virtuelle Format nicht mehr verfügbar (Simons/Hauser: Zu Form und Ausgestaltung der Hauptversammlung in der HV-Saison 2022, NZG 2021, 1340).
Um die Erleichterungen des COVMG nutzen zu können, muss die Hauptversammlung also bis zum 31.08.2022 vollständig durchgeführt worden sein. Virtuelle Hauptversammlungen, die zwar noch bis zum Stichtag einberufen, aber erst danach durchgeführt werden, können die Erleichterungen des COVMG daher nicht mehr in Anspruch nehmen.
Das ist für Gesellschaften mit einem dem Kalenderjahr entsprechenden Geschäftsjahr im Hinblick auf deren ordentliche Hauptversammlungen 2022 wegen der in §§ 120 Abs. 1 S. 1 und 175 Abs. 1 S. 2 AktG vorgesehenen Maximal-Fristen von acht Monaten in der Regel kein Problem. Hat die Gesellschaft jedoch ein abweichendes Geschäftsjahr, kann sie gegebenenfalls nicht mehr auf die Erleichterungen des COVMG zurückgreifen.
Gegen ein darauf gegründetes, zielgerichtetes Vorziehen der Hauptversammlung im Vergleich zu dem in den Vorjahren üblichen Termin ist – unter Berücksichtigung der vorstehend genannten Ermessensbedingungen – nichts einzuwenden (Simons/Hauser: Zu Form und Ausgestaltung der Hauptversammlung in der HV-Saison 2022, NZG 2021, 1340).